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Dienstag, 30. April 2024

»Walpurgisnacht«, »Faust I« von J.W. von Goethe





Walpurgisnacht

Harzgebirg

Gegend von Schierke und Elend

Faust. Mephistopheles.


Mephistopheles:

Verlangst du nicht nach einem Besenstiele?
Ich wünschte mir den allerderbsten Bock.
Auf diesem Weg sind wir noch weit vom Ziele.

Faust:

Solang ich mich noch frisch auf meinen Beinen fühle,
Genügt mir dieser Knotenstock.
Was hilft's, daß man den Weg verkürzt! –
Im Labyrinth der Täler hinzuschleichen,
Dann diesen Felsen zu ersteigen,
Von dem der Quell sich ewig sprudelnd stürzt,
Das ist die Lust, die solche Pfade würzt!
Der Frühling webt schon in den Birken,
Und selbst die Fichte fühlt ihn schon;
Sollt er nicht auch auf unsre Glieder wirken?

Mephistopheles:

Fürwahr, ich spüre nichts davon!
Mir ist es winterlich im Leibe,
Ich wünschte Schnee und Frost auf meiner Bahn.
Wie traurig steigt die unvollkommne Scheibe
Des roten Monds mit später Glut heran
Und leuchtet schlecht, daß man bei jedem Schritte
Vor einen Baum, vor einen Felsen rennt!
Erlaub, daß ich ein Irrlicht bitte!
Dort seh ich eins, das eben lustig brennt.
Heda! mein Freund! darf ich dich zu uns fodern?
Was willst du so vergebens lodern?
Sei doch so gut und leucht uns da hinauf!

Irrlicht:
Aus Ehrfurcht, hoff ich, soll es mir gelingen,
Mein leichtes Naturell zu zwingen;
Nur zickzack geht gewöhnlich unser Lauf.

Mephistopheles:
Ei! Ei! Er denkt's den Menschen nachzuahmen.
Geh Er nur grad, in 's Teufels Namen!
Sonst blas ich ihm sein Flackerleben aus.

Irrlicht:
Ich merke wohl, Ihr seid der Herr vom Haus,
Und will mich gern nach Euch bequemen.
Allein bedenkt! der Berg ist heute zaubertoll
Und wenn ein Irrlicht Euch die Wege weisen soll
So müßt Ihr's so genau nicht nehmen.

Faust,
Mephistopheles,
Irrlicht
(im Wechselgesang):

      In die Traum- und Zaubersphäre
      Sind wir, scheint es, eingegangen.
      Führ uns gut und mach dir Ehre
      Daß wir vorwärts bald gelangen
      In den weiten, öden Räumen!
      Seh die Bäume hinter Bäumen,
      Wie sie schnell vorüberrücken,
      Und die Klippen, die sich bücken,
      Und die langen Felsennasen,
      Wie sie schnarchen, wie sie blasen!

      Durch die Steine, durch den Rasen
      Eilet Bach und Bächlein nieder.
      Hör ich Rauschen? hör ich Lieder?
      Hör ich holde Liebesklage,
      Stimmen jener Himmelstage?
      Was wir hoffen, was wir lieben!
      Und das Echo, wie die Sage
      Alter Zeiten, hallet wider.

      »Uhu! Schuhu!« tönt es näher,
      Kauz und Kiebitz und der Häher,
      Sind sie alle wach geblieben?
      Sind das Molche durchs Gesträuche?
      Lange Beine, dicke Bäuche!
      Und die Wurzeln, wie die Schlangen,
      Winden sich aus Fels und Sande,
      Strecken wunderliche Bande,
      Uns zu schrecken, uns zu fangen;
      Aus belebten derben Masern
      Strecken sie Polypenfasern
      Nach dem Wandrer. Und die Mäuse
      Tausendfärbig, scharenweise,
      Durch das Moos und durch die Heide!
      Und die Funkenwürmer fliegen
      Mit gedrängten Schwärmezügen
      Zum verwirrenden Geleite.

      Aber sag mir, ob wir stehen
      Oder ob wir weitergehen?
      Alles, alles scheint zu drehen,
      Fels und Bäume, die Gesichter
      Schneiden, und die irren Lichter,
      Die sich mehren, die sich blähen.

Mephistopheles:
Fasse wacker meinen Zipfel!
Hier ist so ein Mittelgipfel
Wo man mit Erstaunen sieht,
Wie im Berg der Mammon glüht.

Faust:
Wie seltsam glimmert durch die Gründe
Ein morgenrötlich trüber Schein!
Und selbst bis in die tiefen Schlünde
Des Abgrunds wittert er hinein.
Da steigt ein Dampf, dort ziehen Schwaden,
Hier leuchtet Glut aus Dunst und Flor
Dann schleicht sie wie ein zarter Faden
Dann bricht sie wie ein Quell hervor.
Hier schlingt sie eine ganze Strecke
Mit hundert Adern sich durchs Tal,
Und hier in der gedrängten Ecke
Vereinzelt sie sich auf einmal.
Da sprühen Funken in der Nähe
Wie ausgestreuter goldner Sand.
Doch schau! in ihrer ganzen Höhe
Entzündet sich die Felsenwand.

Mephistopheles:
Erleuchtet nicht zu diesem Feste
Herr Mammon prächtig den Palast?
Ein Glück, daß du's gesehen hast,
Ich spüre schon die ungestümen Gäste.

Faust:
Wie rast die Windsbraut durch die Luft!
Mit welchen Schlägen trifft sie meinen Nacken!

Mephistopheles:
Du mußt des Felsens alte Rippen packen
Sonst stürzt sie dich hinab in dieser Schlünde Gruft.
Ein Nebel verdichtet die Nacht.
Höre, wie's durch die Wälder kracht!
Aufgescheucht fliegen die Eulen.
Hör, es splittern die Säulen
Ewig grüner Paläste.
Girren und Brechen der Aste!
Der Stämme mächtiges Dröhnen!
Der Wurzeln Knarren und Gähnen!
Im fürchterlich verworrenen Falle
Übereinander krachen sie alle
Und durch die übertrümmerten Klüfte
Zischen und heulen die Lüfte.
Hörst du Stimmen in der Höhe?
In der Ferne, in der Nähe?
Ja, den ganzen Berg entlang
Strömt ein wütender Zaubergesang!

Hexen (im Chor):
      Die Hexen zu dem Brocken ziehn,
      Die Stoppel ist gelb, die Saat ist grün.
      Dort sammelt sich der große Hauf,
      Herr Urian sitzt oben auf.
      So geht es über Stein und Stock,
      Es farzt die Hexe, es stinkt der Bock.

Stimme:
Die alte Baubo kommt allein,
Sie reitet auf einem Mutterschwein.

Chor:
      So Ehre denn, wem Ehre gebührt!
      Frau Baubo vor! und angeführt!
      Ein tüchtig Schwein und Mutter drauf,
      Da folgt der ganze Hexenhauf.

Stimme:
Welchen Weg kommst du her?

Stimme:
      Übern Ilsenstein!
Da guckt ich der Eule ins Nest hinein,
Die macht ein Paar Augen!

Stimme:
      O fahre zur Hölle!
Was reitst du so schnelle!

Stimme:
Mich hat sie geschunden,
Da sieh nur die Wunden!

Hexen, Chor:
      Der Weg ist breit, der Weg ist lang,
      Was ist das für ein toller Drang?
      Die Gabel sticht, der Besen kratzt,
      Das Kind erstickt, die Mutter platzt.

Hexenmeister, halber Chor:
      Wir schleichen wie die Schneck im Haus,
      Die Weiber alle sind voraus.
      Denn, geht es zu des Bösen Haus,
      Das Weib hat tausend Schritt voraus.

Andere Hälfte:
      Wir nehmen das nicht so genau,
      Mit tausend Schritten macht's die Frau;
      Doch wie sie sich auch eilen kann,
      Mit einem Sprunge macht's der Mann.

Stimme (oben):
Kommt mit, kommt mit, vom Felsensee!




Sonntag, 28. April 2024

Karl Kraus zum 150. Geburtstag


Karl Kraus


Karl Kraus war wohl einer der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller des beginnenden 20. Jahrhunderts. Denn er war nicht nur einfach so Publizist, sondern darüber hinaus auch Satiriker, Lyriker, Aphoristiker, Dramatiker, Förderer junger Autoren, Sprachforscher und Kulturkritiker, sowie vor allem ein analytischer, scharfzüngiger Beobachter der Presse und des Hetzjournalismus oder, wie er selbst es ausdrückte, der Journaille. Ich möchte euch heute ein bisschen was über den Mann erzählen der heute vor 99 Jahren den Epilog über "Die letzten Tage der Menschheit" veröffentlichte.

Karl Kraus wurde am 28. April 1874 im böhmischen Jicín als Sohn eines örtlichen wohlhabenden jüdischen Papierfabrikanten und angesehenen Kaufmanns geboren. 1877 zogt die Familie nach Wien um, wo Kraus ab 1892 zuerst Jura, dann Philosophie und schließlich Germanistik studierte, ohne jedoch jemals das Studium wirklich abzuschließen. 1897 wurde er stattdessen Korrespondent der Breslauer Zeitung. 1899 verließ er ziemlich desillusioniert die jüdische Glaubensgemeinschaft und konvertiert übrigens zwölf Jahre später, also im Jahre 1911 zum Katholizismus.

Wieder zwölf Jahre später, im Juni 1923, trat er dann auch wieder aus diesem Verein aus, weil er erkennt das auch hier letztlich derselbe Dogmatismus herrschte wie im Judentum. Sein Privatleben war übrigens primär geprägt von der langjährigen Beziehung zur böhmischen Baronin Sidonie Nádherny von Borutin, die er bereits 1913 kennen lernt. Zwar erwiderte die seine Liebe nicht, doch bleiben sich die beiden eng verbunden, besuchten sich häufig und unternehmen gemeinsame Urlaubsreisen. Bereits seit 1892 für die Wiener Literaturzeitung immer wieder journalistisch tätig, gründete er im April 1899 die Zeitschrift „Die Fackel“.

Auf dieser Plattform wendet er sich gegen die Verlogenheit, Dummheit und Korrumpierbarkeit, den Militarismus und den Bürokratismus der österreichisch-ungarischen Monarchie. Die Zeitschrift erscheint immerhin 37 Jahre lang mit Kraus als dem verantwortlichen Herausgeber und ab 1911 sogar mit ihm als primären Autor welcher im Grunde die meisten Beiträge wohl auch letztlich entscheidend geprägt haben dürfte. Zielrichtung seiner über 500 Artikel ist von Anfang an die Bekämpfung der seiner Meinung nach eklatanten sprachlichen Verwahrlosung seiner Zeit. Kraus ist im Grunde von den Möglichkeiten mit Sprache ein und denselben Sachverhalt auf unterschiedliche Art und Weise darzustellen geradezu besessen und führt das Unheil der Welt letztlich auf den gedankenlosen Gebrauch der Sprache in der zwischenmenschlichen Kommunikation innerhalb der Gesellschaft zurück. Die "Fackel" macht Kraus bei seinen Gegnern gefürchtet. Immer wieder wird er in Prozesse verwickelt, die er aber wegen seiner guten Recherche allesamt gewinnt. Eine der bekanntesten Skandale im wilhelminischen Kaiserreich war die "Affäre Eulenburg", in der Kraus den Publizisten Maximilian Harden argumentativ buchstäblich demontierte und so quasi literarisch "hinrichtete". Für seine Bewunderer hingegen wird Kraus spätestens jetzt durch die scharfzüngigen Beiträge zu einer zornigen Autorität, die im Wien der Jahrhundertwende ihresgleichen suchte.

Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs schwieg Karl Kraus zunächst in der Öffentlichkeit, seine Zeitschrift „Die Fackel“ erschien auch nach der üblichen Sommerpause nicht. Erst am 19. November 1914 hielt er in seiner 80. Vorlesung als Gastdozent an der Berliner Uni einen sehr analytischen Vortrag über diese vermeintlich so große Zeit, welcher dann auch in der Nr. 404 von "Die Fackel" am 5. Dezember 1914 unter dem Titel „ Die Anrede“ als Artikel erschien. Darin wandte er sich entschieden gegen den Krieg, was er übrigens durch Fakten und nicht durch Polemik belegte. Aber auf die Katastrophe des Ersten Weltkriegs antwortet Karl Kraus letztlich mit der bitterbösen Realsatire "Die letzten Tage der Menschheit“. Die Realität des Krieges als Farce? Nicht ganz. Er beschrieb alles, die Gasangriffe, der zähe Stellungskampf oder das Sterben im aufgeweichten Sumpf der Schützengräben. Er brachte es auf den Punkt oder kurz gesagt, seine Credo lautete schlicht, was sie nicht sofort tötete, zermürbte die Soldaten und daheim verhungern derweil die Familien. Die Lage war letztlich von Anfang an hoffnungslos.

Aber für die beiden Hauptverbündeten, also das deutsche und das österreichisch-ungarische Kaiserreich, gab es halt kein Zurück mehr. Das Verheizen von Menschen und Material ging weiter, dabei unterstützt von einem Propagandaapparat, den heuchlerische Kriegsberichterstatter und andere Claqueure mit einseitigen Berichten fütterten. Kritischere Texte verhinderte die Zensur der Mittelmächte. Deshalb konnte der österreichische Realsatiriker Karl Kraus seine in den Jahren ab 1915 verfasste bitterböse Abrechnung eben auch erst nach dem Waffenstillstand veröffentlichen. Aber immerhin gleich vier Wochen später, am 13. Dezember 1918, brachte er den Epilog als ersten Teil seiner monumentalen Antikriegstragödie "Die letzten Tage der Menschheit" in einer Sondernummer seiner Zeitschrift "Die Fackel" heraus. So eilig hatte er es, diesen apokalyptischen Abgesang, der zu großen Teilen heute noch aktuell wirkt, unter die Leute zu bringen. Es ihnen endlich um die Ohren zu hauen, was er von ihnen hielt, von den Mächtigen, die "mit Munition regieren", von den Fabrikanten, die vom Sterben profitieren, von den Kriegstreibern und Höflingen, die die "Sprache durch ihr Sprechen beschmutzen", von all den Händlern, Helden und Bombenwerfern. Hüben wie drüben hätten sie, so zumindest lässt er eine "Stimme von Oben" predigen:

"Im Frevel geeint, von Süden bis Norden
den Geist nur verwendet, um Leiber zu morden
und einverständlich von Osten bis Westen
die Luft mit Rache und Rauch zu verpesten".


Karl Kraus entwarf hier letztlich ein fast visionäres Szenarium. Ein letztes Mal treten die zynischsten aller Subjekte auf und wie die auftreten. Journalisten schießen Fotos anstatt Sterbenden zu helfen, fliehende Generäle holpern mit dem Automobil wild hupend über Leichen und ein Ingenieur namens Abendrot präsentiert stolz seine neueste Erfindung. Einfach per Knopfdruck tötet er geräuschlos Tausende von Soldaten. Am Horizont erscheinen Flammenwände und später, als das Inferno einsetzt, das die Erde und ihre Bewohner komplett zerstören wird, regnet es Blut und Asche. Der Mars schickt ein Meteoritenbombardement samt Weltendonner. Klingt toll, aber das auf die Bühne zu bringen, Puh! Was für eine Herausforderung für Regie und Bühnenbild! In mehr als zweihundert nur lose zusammenhängenden Szenen, die größtenteils auf authentischen zeitgenössischen Quellen beruhen, wird die Unmenschlichkeit und Absurdität des Krieges ohne falsches Pathos, ja schon fast klinisch steril, dargestellt. Über ein Drittel des endgültigen Textes ist übrigens tatsächlich aus echten Zitaten montiert. Nämlich aus Zeitungen, militärischen Tagesbefehlen, Gerichtsurteilen, eigenen und fremden Briefen, Verordnungen und Erlässen, Verlautbarungen des Kriegspressequartiers, Anordnungen der Zivilbehörden, Kriegspredigten, Ansprachen, Prospekte, aber auch Postkarten, Fotos, Plakaten, usw. Kraus schrieb darüber im Vorwort: „Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.“ Das Stück ist übrigens einem fiktiven „Marstheater“ zugedacht und führt in "hundert Szenen und Höllen", seine Helden sind "Operettenfiguren, welche die Tragödie der Menschheit aufführen". Der Text der Weltkriegstragödie ist authentisch, noch die grellste Erfindung ein Zitat. Dennoch sei, was aus dieser "Versuchsstation des Weltunterganges" dringt, so gestand Karl Kraus, das "Echo meines blutigen Wahnsinns". Nach "irdischer Zeitrechnung", so schätzte der Wiener Moralist, müssten für „Die letzten Tage der Menschheit“ zehn Abende vergehen. In der vorzüglichen Hörspielfassung des Österreichischen Rundfunks, für die 1974 alle 220 Szenen vom Blatt gesprochen wurden, sind es exakt 22 Stunden und 12 Minuten. Aber als echtes Theaterstück ist es übrigens bisher auch noch nie komplett auf der Bühne aufgeführt worden.

Natürlich lässt sich dieses Stück nicht aufführen. Die spärlichen Versuche, es in Ausschnitten auf eine Theaterbühne zu zwingen, blieben stets unbefriedigend. Denn der fragmentarische Charakter dieser Aufführungen reduzierte es noch in jedem Fall auf groteske Anekdoten, welche die kosmische Dimension, die der Autor seinem Werk zugedacht hatte, zerstörten. Das Weltgericht verkümmert zum schrillen Panoptikum kakanischer Unwürdenträger, die allesamt so authentisch sind, wie es einst die spaßigen Soldatenkarikaturen eines Fritz Schönpflug in der Muskete waren. Aber das war letztlich nicht das Problem des Verfassers. Vielmehr knabberte Karl Kraus an der Frage, wer genau für den Terror und Horror auf den Schlachtfeldern verantwortlich zu machen wäre. Lange dachte er es wäre das jüdische Großbürgertum, speziell Kapital und Presse, und noch spezieller der "Antichrist" Moriz Benedikt, seines Zeichens Chefredakteur der Neuen Freien Presse in Wien, gewesen. Die erste Fassung des Dramas ist dabei noch wesentlich geprägt von Kraus’ konservativer Haltung, die er bis in die zweite Hälfte des Weltkriegs beibehielt.

Er war nämlich, so kurios es klingen mag, ein Verehrer des Thronfolgers Franz Ferdinand gewesen, ja mehr noch, er schätzte die Habsburger und das österreichische Militär extrem hoch ein. Erst ab etwa dem Beginn des Jahres 1917 löste er sich von dieser Sicht und näherte sich an die Sozialdemokratie an. Neben der Presse machte er jetzt eben wie gesagt auch die Habsburger, verantwortungslose Politiker und Militärs für den Krieg verantwortlich. Besonders scharf griff er den deutschen Kaiser Wilhelm II. an, dem er, übrigens gestützt auf Erinnerungen seiner Zeitgenossen an ihn, totale Inkompetenz, Größenwahn und Sadismus vorwarf. Aber das reichte ihm scheinbar immer noch nicht. Denn in dem Epilog, den er im Sommer 1917 schrieb, modifizierte erstmals seine antisemitischen Attacken. Nicht der Jude als solcher, sondern die Menschheit an sich sei schuldig.

Denn gibt es neben den Großkotzigen nicht unzählige schweigende Kleingeister, die die Katastrophe nicht verhinderten? Trotz aller Polemik, der Autor selbst spielte natürlich eine Sonderrolle. Während Millionen jubelten und starben, dokumentierte er ja den Aberwitz des Krieges für seine in der Tat einzigartige Tragödie von den "letzten Tagen der Menschheit". Bei der Uraufführung des Epilogs sprach Karl Kraus denn auch den allerletzten Satz, mit dem Gott das Drama höchstpersönlich abschließt, indem er Wilhelm II., den deutschen Kaiser, zitiert, der seine Hände so verlogen in Unschuld wusch: "Ich habe es nicht gewollt." So klingt entweder bitterböse Ironie, oder nihilistische Menschenverachtung!

Bedingt durch seine stark veränderte Einstellung zu den Habsburgern und dem Militär sowie auch durch erst nach Kriegsende zugängliche Informationen veränderte Kraus in den nächsten Monaten die Letzten Tage wesentlich. Rund 50 Szenen kamen neu hinzu, während nur eine gestrichen wurde. Die Szenenabfolge wurde völlig verändert. Die Dialoge zwischen dem Optimisten und dem Nörgler wurden wesentlich ausgebaut, ebenso die deutschlandkritischen Bereiche. Die Verehrer der Reichspost wurden eingefügt, um neben der liberalen Neuen Freien Presse nun auch die christlich-soziale Reichspost bloßzustellen. Die sogenannte Buchausgabe erschien am 26. Mai 1922 in einer Auflage von 5.000 Stück, eine zweite, gleich hohe Auflage folgte im Dezember. Die dritte Auflage 1926 von 7.000 Stück blieb bis zum Tode von Kraus lieferbar.

In seinen nachfolgenden Essays zu Literatur, Dichtern und Zeitgeschehen profilierte er sich auch später nicht nur als sarkastischer Satiriker, sondern wendet sich auch immer wieder gegen prominente Zeitgenossen. Legendär ist zum Beispiel seine Fehde mit dem Berliner Feuilletonisten Alfred Kerr. Kraus beschäftigt sich auch intensiv mit Shakespeare, dessen teilweise jahrzehntealte Übersetzungen etlicher Dramen er nicht nur grundlegend überarbeitet, sondern falls notwendig auch Shakespeares Sonette nachdichtet, um sie so seinem deutschsprachigen Publikum überhaupt erst mal verständlich zu machen. Im Alter wurde Kraus immer verbitterter. Vor allem die Machtergreifung der Nationalsozialisten deprimierte ihn stark. Schon zwei Wochen nach der Machtergreifung im Jahr 1933 erklärten die Nationalsozialisten in der logischen Konsequenz seine Werke daraufhin für unerwünscht und schädlich. Von den Bücherverbrennungen werden sie jedoch verschont, was Kraus allerdings nun weniger gefiel.

Seinen bereits im Druck befindlichen Essay "Die dritte Walpurgisnacht", in dem er sich Ende 1933 hart mit den Nazis auseinandersetzte und der mit dem berühmten Satz "Mir fällt zu Hitler nichts ein" begann, zog er kurz vor der Auslieferung am 13. Dezember 1933 doch noch zurück. Er verzichtete deswegen auf eine Veröffentlichung, weil er nämlich zurecht fürchtet, die Faschisten könnten sich für dieses Werk mit der Ermordung von Juden rächen. Am 12. Juni 1936 starb Karl Kraus in Wien und erlebte so nicht mehr, wie sein Heimatland von den Deutschen kurzerhand übernommen wurde.

Karl Kraus 150. Geburtstag

Karl Kraus

Karl Kraus wurde vor 150 Jahren am 28. April 1874 in Jitschin oder auch Gitschin, Böhmen, als Sohn des jüdischen Papierfabrikanten und wohlhabenden Kaufmanns geboren.

Karl Kraus war einer der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller des beginnenden 20. Jahrhunderts, ein Publizist, Satiriker, Lyriker, Aphoristiker, Dramatiker, Förderer junger Autoren, Sprach- und Kulturkritiker - vor allem ein scharfer Kritiker der Presse und des Hetzjournalismus oder, wie er selbst es ausdrückte, der »Journaille«.

1892 begann Kraus ein Jurastudium an der Universität Wien. Ab April erschienen seine ersten journalistischen Beiträge in der Wiener Literaturzeitung. Daneben betätigte er sich als Dramatiker, Lyriker und Vortragskünstler.


In seinem monströsen Weltuntergangskabarett "Die letzten Tage der Menschheit" stülpte Karl Kraus das vertraute Bild des Habsburgerreiches ins Infernalische um. Der Erste Weltkrieg erweist sich als apokalyptisches Völkergemetzel, angerichtet von bestialischen Militärs, idiotischen Beamten, zwei blödsinnigen Kaisern, einer vertrottelten Adelskaste, einer bornierten Kirche und einem gierigen Bürgertum im Verein mit einer gewaltgeilen Journaille von Kriegshetzern und Hyänen des Schlachtfelds.

Samstag, 20. April 2024

»Hundert Jahre Einsamkeit« von Gabriel García Márquez

Gabriel Garcia Marquez

»Hundert Jahre Einsamkeit« von Gabriel Garcia Marquez gilt als Hauptwerk des »Magischen Realismus« und erzählt die Geschichte von sechs Generationen der Familie Buendía, deren Stammvater, José Arcadio Buendía einen Mord begangen hat und sich mit Frau und Kindern sowie einigen weiteren Familien auf die Flucht vor dem Geist des Ermordeten begibt.

Der Roman erzählt eine Familiengeschichte über sechs Epochen, in der die Geschichte und Politik in Südamerika hineinreichen, so daß das Sittenbild einer Epoche entsteht. Es wird eine Familiengeschichte gespiegelt.

Im Dschungel gründet er das Dorf Macondo, wohin nur die Zigeuner immer wieder den Weg finden. Von ihren Zügen durch die Welt bringen sie die neuesten Erfindungen mit. Jedes Mal begeistert sich José Arcadio dafür und lässt sich von dem Weisen Melchiades die Apparate, Magnete und Chemikalien erklären. Er forscht und experimentiert und muss schließlich, dem Wahnsinn verfallen, an einen Baum gekettet werden.

Unterdessen entwickelt sich Macondo zu einem regelrechten Städtchen, das nach seinen eigenen Gesetzen lebt und prosperiert, bis eines Tages ein Landrichter auftaucht und Macondo unter staatliche Gewalt und Verwaltung gerät. In der Folge wird auch das abgeschiedene Urwalddorf in den Bürgerkrieg zwischen Liberalen und Konservativen gezogen. Kaum ist der Krieg beendet, tritt eine nordamerikanische Bananengesellschaft in Erscheinung und beutet die Einwohner Macondos aus.

Foto

Ein Arbeiteraufstand endet mit einem Blutbad, von dem alle behaupten, es habe nie stattgefunden. Vor einer Naturkatstrophe aber muss auch die Bananengesellschaft kapitulieren. Ein vier Jahre andauernder, sintflutartiger Regen lässt das Dorf verfallen, und während seine Bewohner in Apathie versinken, erobern die Pflanzen und Insekten des Dschungels das diesem abgetrotzte Terrain zurück.

Der letzte Buendía stirbt, nachdem seine Frau die Geburt des einzigen Kindes nicht überlebt hat. Während er seine Verzweiflung darüber in Alkohol ertränkt, wird das Neugeborene ein Opfer der Ameisen. Unmittelbar vor seinem Tod gelingt es Aureliano Babilonia die Pergamente des Melchiades endgültig zu entschlüsseln, und er erfährt, dass Melchiades die ganze Geschichte der Familie Buendía vorhergesehen hatte.

Obwohl die letzten Worte lauten: „…daß alles in ihnen geschriebene seit immer und für immer unwiederholbar war, weil die zu hundert Jahren Einsamkeit verurteilten Sippen keine zweite Chance auf Erden bekamen“, hat man doch das Gefühl, es mit einem ewigen Kreislauf der Geschichte zu tun zu haben und könnte gleich noch einmal von vorn beginnen, das Buch zu lesen, weil dies eben der Gang der Dinge sei.

Wer Familienepen und moderne Märchen mag, wer südamerikanische Literatur und Tragikkomik mag und über alles ein weises Augenzwinker legen kann, der ist in diesem magischen Werk des Realismus gut aufgehoben.

Literatur:

Hundert Jahre Einsamkeit
Hundert Jahre Einsamkeit
von Gabriel García Márquez

Weblink:

Gabriel García Márquez-Biografie - Biografien-Portal - www.die-biografien.de

Freitag, 19. April 2024

George Gordon Byron 200. Todestag

George Gordon Byron


George Gordon Byron, bekannt als Lord Byron, starb vor 200 Jahren am 19. April 1824 in Messolongi, Griechenland. Lord Byron war ein britischer Dichter und einer der wesentlichen Vertreter der englischen Romantik. Er war der Vater von Ada Lovelace und ist überdies als wichtiger Teilnehmer am Freiheitskampf der Griechen bekannt.

Byron gehört zu den großen englischen Romantikern. Man findet aber bei ihm wie bei Heinrich Heine, einen ironischen Unterton, der aus dem romantischen Weltschmerz herzuleiten ist. Sein Haupt-und Meisterwerk ist "Don Juan", ein satirisch-komischer Versroman mit Abschweifungen und lyrischen Einlagen.



Im Jahr 1809 unternahm er eine große Reise in den Mittelmeerraum: Über Lissabon fuhr er nach Spanien und besuchte auch Malta, Albanien, Griechenland und die Küste Kleinasiens.

Durch diese Reise begann nicht nur Byrons Abenteuer, in der er Held seines eigenen Lebens war, durch sie wurde er vor allem zum Kosmopoliten, in der sein kosmopolitischer Liberalismus und seine relativistische Sicht der Moral zur Blüte heranreifte. In seinen Briefen reflektierte er über die unterschiedlichen Menschen und Bräuche und gelangte zu der Erkenntnis, dass sich die Menschen überall gleich blieben, mit Ausnahme der unterschiedlichen Bräuche und SittenNach seiner Rückkehr wurde Byron 1812 durch die Publikation der ersten beiden Canti von »Childe Harold’s Pilgrimage« schlagartig bekannt.

Die skandalumwobene Trennung von seiner Ehefrau Annabella Milbanke führte zu einem öffentlichen Eklat. Der Dichter musste aber auch für seine sexuelle Zügellosigkeit, zu der Inzest mit seiner Halbschwester Augusta als auch homosexuelle Handlungen gehörten, England 1816 für immer verlassen. Byron war gesellschaftlich isoliert und verließ London am 23. April und England am 25. April 1816 auf Dauer.

Anfang 1823 nahm Byron als Freund der Hellene das ihm angebotene Kommando über die freien griechischen Streitkräfte an. Ein Jahr später starb er in Messolongi in Griechenland an den Folgen einer Unterkühlung und den schwächenden Wirkungen des medizinischen Aderlasses. Wegen seines Engagements für die griechische Unabhängigkeitsbewegung ist Lord Byron in Griechenland bis heute bekannt und hoch angesehen.

George Gordon Byron wurde am 22. Januar 1788 in London geboren.

Literatur:

Don Juan
Don Juan
von George Gordon Lord Byron

Biografie:

Don Juan
Lord Byron
von Louis Lewes

Mittwoch, 17. April 2024

»Er ist's« von Eduard Mörike



Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist's!
Dich hab' ich vernommen!


»Er ist's« von Eduard Mörike (1828)



Frühlingsbücher, das man gelesen haben sollte:



Frühling: Ein Poesiealbum

von Günter Berg

Frühlingsgedichte
Frühlingsgedichte

von Evelyne Polt-Heinzl und Christine Schmidjell

Donnerstag, 4. April 2024

Erster Tagebucheintrag in dem Roman "1984"


Nineteen Eighty-four

Der 4. April 1984 markiert den ersten Tagebucheintrag von Winston Smith in dem Roman "1984" von George Orwell. Winston Smith, die Hauptfigur des Romans, ist ein 39 Jahre alter, ausgemergelter, gebrechlicher, grüblerischer und resignierter Mann, der an den von der Partei ausgegebenen Parolen und ihrem Führer, dem Großen Bruder, zweifelt.

Um den tatsächlichen Verlauf der Dinge festhalten zu können (gegenüber der pausenlosen Geschichtsfälschung der Partei, die er aus seiner Arbeit im „Ministerium für Wahrheit“ kennt), beginnt er, Tagebuch zu schreiben. Er wünscht sich den Umsturz der Regierung und den Niedergang des Großen Bruders und sucht daher nach Gleichgesinnten, die er in Julia und O’Brien zu finden glaubt.

Big Brother

Winston ist in seinem Widerstand bemüht zu verstehen, wie die Partei eine solch totale Macht ausüben kann. Seine Überlegungen kreisen häufig um die Möglichkeit, Sprache zur Gedankenkontrolle zu benutzen („Neusprech“). Orwell setzte den Namen des Protagonisten aus dem Vornamen von Winston Churchill und dem einfachen Allerwelts-Nachnamen Smith zusammen.

"1984", erschienen im Juni 1949, ist ein dystopischer Roman von George Orwell, in dem ein totalitärer Überwachungsstaat in einer ferner Zukunft im Jahre 1984 dargestellt wird. In Ozeanien regiert die Einheitspartei diktatorisch unter Anwendung von Methoden des Überwachungsstaates.

Protagonist der Handlung ist Winston Smith, ein einfaches Mitglied der diktatorisch herrschenden, sozialistischen Staatspartei, der sich der allgegenwärtigen Überwachung zum Trotz seine Privatsphäre sichern will sowie etwas über die reale nicht redigierte Vergangenheit erfahren möchte und dadurch in Konflikt mit dem System gerät, das ihn einer Gehirnwäsche unterzieht.

1984
1984

Der Klassiker über einen allmächtigen Überwachungsstaat ist und bleibt beklemmend aktuell: Mit seiner düsteren Dystopie "1984" schuf George Orwell eines der einflußreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts. "1984" hat im Laufe der Geschichte zu ganz unterschiedlichen Zeiten aufgrund der Themen staatliche Wahrheit, Lüge, Sprache, Surveillance und Bewußtseinsveränderung immer wieder starke Beachtung gefunden.

Literatur:

1984
1984
von George Orwell


Weblinks:

George Orwell-Biografie - www.die-biografien.de

George Orwell-Zitate - www.die-zitate.de


Blog-Artikel:

»1984« von George Orwell

George Orwell